
Ein Schneider ist dasselbe wie ein Schuster. Gilt allerdings nicht in Hamburg.
Vor 10 Jahren bin ich aus Augsburg 800 Kilometer Richtung Norden gezogen. Nach Hamburg. Hamburg ist überraschenderweise voll von Hamburger*innen. Und Norddeutschen. Deshalb gab es am Anfang Missverständnisse. Also, zwischen Hamburg und mir.
Wenn ich zum Beispiel erzählte, ich sei neulich von einer riesigen Schnake gestochen worden, guckten die Leute aus Hamburg kurz auf, schüttelten den Kopf und irgendwer sagte dann immer: „Aber Schnaken stechen doch überhaupt nicht.“ Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass in Hamburg mit „Schnake“ (übrigens völlig korrekt) die Insekten bezeichnet werden, die ich als „Schneider“ kenne. Für mich sind Schnaken nämlich Stechmücken. Die kleinen mit den Biegevorderbeinen, die einem nachts fies und hoch in die Ohren singen. (Im Süden wiederum gibt es dauernd Streit darüber, mit welchen Begrifflichkeiten man Schneider (norddeutsch: Schnaken) bezeichnet und mit welchen Weberknechte. Es gibt Leute, die Stein und Bein schwören, ein „Habergaukel“ wäre ein Weberknecht. Das ist natürlich Blödsinn. Ein Habergaukel ist ein Schneider. Die Verwirrung stammt wohl daher, dass Weberknechte auch Habergeiss genannt werden. Es wird noch abstruser: Schneider werden regional auch als Schuster bezeichnet. Da kennt sich doch niemand mehr aus!)
Am Anfang habe ich außerdem ganz kurz geglaubt, dass viele Kinder in Hamburg „Lütte“ heissen würden. Ich fand den Namen zwar ungewohnt, aber da ich mich nach meiner Ankunft wochenlang über die Haltestelle „Schlump“ amüsiert und über all die Büttel, Twieten, Fleete gewundert hatte, dachte ich nur: Naja, diese Hamburger, sowas gefällt ihnen, hier heißen die Kinder eben Ove, Line und Lütte. In Bayern heißen sie dagegen Quirin, Afra und Emerenz, weniger seltsam ist das auch nicht. Völliger Quatsch natürlich, „lütt“, aber das weiß außer mir eh fast jeder, heißt einfach nur „klein“. Ja mei, es war halt oft die Rede davon, ob jemand „seine Lütte“ mitbringen würde, da kann man schon mal in Verwirrung geraten.
Wenn ich einen Laden betrat, wusste ich plötzlich nicht mehr, wie ich die Verkäuferinnen und Verkäufer grüßen sollte. Ich war bis dahin für solche Gelegenheiten „Grüß Gott“ gewohnt gewesen, oder natürlich „Hallo“, je nach Laden. In Hamburg sagte aber kaum einer Hallo, die meisten sagten „Moin“, woran ich mich partout nicht gewöhnen konnte, also, als Aussprechende, als Moin-Sagende wäre ich mir vorgekommen, als würde ich lässig-und ‚ich bin schon immer hier gewesen‘-artig tun wollen. „Guten Tag“ hingegen klang für mich so ungewohnt wie für „Guten Tag“-Sager (nehme ich an) „Grüß Gott“ klingt. Ich war also dermaßen durcheinander, dass ich Läden meist mit einem leicht beschämten Lächeln (weil ich ja nicht wusste, was ich sagen sollte) betrat und dazu „Äh…“ machte. „Äääh…“. Wie so eine Bekloppte kam ich nickend, lächelnd und „Äääh…“ sagend in die Läden herein.
War ich erstmal drin, bestellte ich fälschlicherweise Brezen. Das gewöhnte ich mir allerdings sehr schnell wieder ab. Erstens, weil ich jedesmal höflich korrigiert wurde, „Ach, sie meinen eine Laugenbrezel?“ (dabei sprachen die Menschen hinterm Bäckereitresen das Wort „Laugenbrezel“ ab und zu so aus, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. „Lau-Gen-Bre-ZeL“ sagten sie dann freundlich und gedehnt) und zweitens, weil ich feststellen musste, dass da, wo Brezen „Brezel“ heißen, selbige eher nicht so gut schmecken. In der etwas herben Augsburger Mundart sagt man übrigens noch nicht mal Breze. Man sagt „Brezg“ (klingt wie „Brettsg“). „I hätt gern a Brezg“ oder auch „zwoi Brezga“. Da stand ich also und kaufte mir „Äh … eine Laugenbrezel?“. Laugenbrezeln fielen als Grundnahrungsmittel schnell aus. Bin ich heute in der Heimat zu Besuch, esse ich sie quasi ohne Pause und fast nichts anderes und kann mich deshalb nur schlecht unterhalten, weil ich unentwegt den Mund vollhabe und die Brezenstücke nur so kullern, während ich Unsinniges wie „Ein Fneider hat mich geftochen! Quatff, eine Fnake natürliff!“ in die Gegend kaue.
Inzwischen bin ich eine Borg, also nein, inzwischen erkennen nur noch wenige den Süden, solange ich im Norden weile. Sie erkennen ihn meist dann, wenn ich „Kirche“ oder „schnarchen“ sage. Da ich allerdings recht selten vom Schnarchen und von Kirchen rede, merkt kaum einer was. Außer, ich telefoniere gerade mit dem Süden. Je länger ich nämlich fern von Augsburg lebe, desto mehr mag ich seinen Dialekt, der mir im ausgehenden Teenageralter eine zeitlang eher unangenehm war. Ich mag ihn so sehr, dass ich inzwischen Videos wie dieses genießerisch Dialektworte nachsprechend angucke und hysterisch lachend allen aufdränge, die es sehen wollen oder auch nicht. Um es zuzugeben: Eigentlich habe ich diesen Text nur geschrieben, um endlich mal wieder das Video verlinken zu können.
Gerade eben habe ich diesen Text entdeckt und hab mich sofort selbst wieder erkannt.
Ich musste so lachen, weil ich es genau so auch erlebt habe. Bin gebürtige Augsburgerin und vor 6 Jahren an die Nordsee (nähe Bremerhaven) gezogen.
Danke für diesen wunderbaren Text!
Das freut mich sehr! Mittlerweile habe ich hier übrigens halbwegs essbare Brezen gefunden (falls Du auch
süch, äh, Fan bist): Bei (erstaunlicherweise) Kamps. Haben nicht viel mit Ihle-/Wolf-/Brezen Bauer-Brezen gemein, aber schmecken (möglicherweise dank der Entfernung?) trotzdem fast wie echt.